Maskenball der Biodiversität
Kongresshaus Zürich 2021
Es ist eher ungewöhnlich, dass Architekten für ein öffentliches
Gebäude wie das Kongresshaus in Zürich ein Blumenfenster vorsehen. Und es
braucht einen genaueren Blick und ein tieferes Verständnis, um zu erkennen,
dass sich der florale Dekor ebenso subtil wie selbstverständlich in die gar
nicht so schmucklose Moderne der Architektur von Max Haefeli, Werner Moser und
Rudolf Steiger fügt. Das hat in der Folge die kritischen Geister bewegt und die
Architekturdebatte belebt. Mag sein, dass das Blumenfenster in der Idee der
1930er Jahre den Lauf der Zeit und der Moden nicht unbeschadet überstand und
womöglich auch wegen zu hohem Unterhalt wegrationalisiert wurde. Es ist aber
ein kongenialer Schachzug der Architekten Diener & Diener, diese Idee neu
zu beleben und das Künstlerpaar Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger mit einer
Neuinterpretation zu beauftragen. Die beiden haben mit einem hängenden Garten
in der Kirche San Staë in Venedig grosse Aufmerksamkeit gefunden; sie haben die
Stiftsbibliothek St. Gallen mit 1001 Versatzstücken in eine Wunderkammer
verwandelt; und sie haben das ehemalige Nationalparkmuseum in Chur
"renaturiert" und dabei zu verstehen gegeben, wie allumfassend ihr
Verständnis von Kunst und Natur ist und wie wenig sie von Kategorien und
Grenzen halten.
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger sollten also das
Blumenfenster neu erfinden, das sich über die ganze Breite des Gartensaals im
Erdgeschoss des Kongresshauses zieht und den östlichen Abschluss zur Strasse
hin bildet. Dass dies kein Ort für eine solitäre künstlerische Intervention
sein kann, sondern dass sich ihre Arbeit räumlich und konzeptuell in die
Architektur einfügen muss, war Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger von Anfang
an bewusst. Die ornamentalen Muster an den Wänden und auf dem Boden, die sich
um Säulen rankenden Beleuchtungskörper oder die verschiedenen grünen Oasen im
räumlichen Gefüge dieses besonderen Bauwerkes dürfte zu diesem zeitgemässen In-
und Miteinander von Kunst und Architektur geführt haben. Zuerst stand offenbar
die geometrische Struktur zur Diskussion, die als dekorativer Sichtschutz aus
der Bauzeit dem grossen Fenster vorgeblendet ist. Heute sind alle glücklich
damit, da diese verhindert, dass Gerda Steiner & Jörg Lenzlingers Maskenball der Biodiversität in einem
Aquarium versinkt. Stattdessen gibt der Raster der unüberblickbaren Fülle
vielfältig verschlungener Kreationen kompositorischen Halt. Von innen wirkt er
wie eine Folie im Hintergrund, von aussen lenkt er den Blick vom Ganzen aufs
Detail. So machen sich die Künstler auf ihre Art zu Nutze, was die Architekten
der 1930er Jahre bereits vorgesehen hatten und was man als integralen Teil des
Gebäudes über die Zeit gerettet hat.
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger nehmen im Titel ihrer
Installation Bezug auf den legendären Künstlermaskenball, der im 1937-1939
erbauten Kongresshaus unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Tradition des
legendären Kunsthausmaskenballs der Goldenen Zwanziger Jahre wiederaufnahm. Der
Maskenball war bis in die 1980er Jahre in Zürich das grosse Fest der Kunst, in
dem sich Bohème und Prominenz tummelte und den anarchischen Geist von Dada wiederaufleben
liess. In Zürichs Kulturleben war er eine Institution und eine Feier der
Kreativität, die sich hier frei und ungebunden zeige konnte. Dieses bunte
Treiben, das alle Normen der Zwingli-Stadt sprengte, ist ganz im Sinn von Gerda
Steiner & Jörg Lenzlinger und animiert sie, im scheinbar spiessigen
Blumenfenster statt wohldosierter Natur mit konfektioniertem Bestand eine
Biodiversität zu inszenieren, die alle Bestrebungen des Artenschutzes
übertrifft.
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger feiern die Vielfalt: Sie
sammeln, was die Vegetation hergibt, und bedienen sich zugleich im Warenlager
der Konsumwelt; sie tragen Erinnerungsstücke zusammen und stellen frei
assoziierend Objekte her, die jedes Naturalienkabinett bereichern würde. Jedes
Ding ist eine Erfindung, genährt aus dem Erfahrungsschatz des Lebens und
angetrieben von einem Blick auf die Welt, der nichts missachtet und alles
beseelt. Die "Teilnehmer" ihrer Parade führen Gerda Steiner &
Jörg Lenzlinger in einem Inventar auf, das ihre Installation begleitet. Sie
nennen Utensilien, beschreiben Kombinationen, erfinden Bilder und Begriffe und
schaffen so ein Universum, das Gattungen hinter sich lässt und alles verbindet:
Dazu gehören "Eine Muschel, die vorgibt eine Rose zu sein",
"Ohrenputzerstäbchen als Pilze inszeniert", das
"Bodenheizungsrohr weiss behaart", die "Irokesenperücke auf
Hasenohrkaktus" oder die "Grünteepinselblume aus Bambus und
Nylonblütenblättern". Es gibt hier kein Entweder-Oder sondern nur das
Zusammenspiel von Kunst und Natur, von Echt und Falsch, von Schein und Sein.
Die Akribie der Wissenschaft geht über in einen Garten der Lüste, der
enzyklopädisch vor uns ausgebreitet ist und sich zugleich jeder Ordnung
entzieht. Alles hat seinen Platz und seine Geschichte und fügt sich zugleich ein
in einen grossen Reigen. Für Unterhaltung ist gesorgt: Wer sich aufmacht auf den
Spaziergang entlang dieser barocken Enfilade, wird sich aus dem Labyrinth nicht
mehr so schnell lösen können. So werden wir letztlich alle in Sinn und Geist
erfasst von einer Welt, die sich permanent neu erfindet und die vor unseren
Augen weiterwuchert, wenn das "Pinke Kunstdüngergewächs"
entsprechende Nahrung erhält. Das Blumenfenster wird damit zu einer Bühne für
ein Spektaktel, das schon im Foyer jeden Kongress und jedes Schauspiel
vorwegnimmt und uns vor Augen führt, wo die Musik des Lebens spielt.
Im Auftrag der Kongresshaus-Stiftung Zürich
Text: Stephan Kunz
Fotos: Georg Erni
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