Einführung
zu Moos und Flechten von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger,
Kongresshaus Zürich, 9. November 2022, 18h
Jacqueline
Burckhardt
Vor anderthalb
Jahren hat das Künstlerpaar Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger die ehemalige
Wintergarten-Vitrine im Gartensaalfoyer neu belebt. Diese Vitrine gab es
bereits im ursprünglichen Gebäude der Architekten Haefeli/Moser/Steiger von 1939.
Sie ist erhalten
geblieben– dank der mit viel Sensibilität vollzogenen
Renovierung und Erweiterung des Kongresshauses und der Tonhalle durch die
Architekten Elisabeth & Martin Boesch und Roger Diener.
Steiner & Lenzlinger
haben diese Vitrine in eine Mischung von Wunderkammer und Wundergarten en
miniature umgewandelt. Wir kennen ihre grossen raumgreifenden
Installationen: die hängende Luftarbeit in der Kirche San Stae anlässlich der
Biennale in Venedig 2003; den umwerfenden Naturpark 2013 im
Kunstmuseum Chur; und 2018 konnten wir ihr dichtes Universum im Tinguely Museum
durchforsten.
Die Vitrine ist
eigentlich ein Vivarium, bevölkert von Hybriden, zoomorphen, anthropomorphen
und vegetabilen Mischwesen. Die feiern hier ihren Maskenball der Biodiversität, so der Titel dieser Arbeit. Die Installation
ist fragil und voller Leichtigkeit, wie wir sie von den Grotesken kennen, jenen
feingliederigen, luftigen Phantasiefiguren aus der Antike, die besonders in der
Renaissance wieder aufkamen. Aber seit eh und je haben Künstler:innen und
Dichter:innen Phantasiewesen und neue Welten der Diversität erzeugt, von der
Steinzeit an in bis in die Bildwelten des Surrealismus und der heutigen Science
Fiction. Denken wir nur an die ägyptische Sphinx oder an die mittelalterliche
Deckenmalerei in der St. Martins Kirche in Zillis, wo auf den Holztafeln Tiere
wie Krokophanten, Eledile oder ein Sorte Fischesel auftauchen.
Da und dort
wuchern in Steiner & Lenzlingers Vivarium auch farbige Kristallgebilde aus
Kunstdünger und weisen darauf hin, dass sich die Alchemie zwar seit
Jahrhunderten zur Chemie emanzipiert hat, in der Kunst aber weiterhin standhaft
ihren aufklärerischen und poetischen Stellenwert verteidigt. Das kennen wir
auch aus Werken von Sigmar Polke oder Raphael Hefti.
Viele Objekte im Maskenball
der Diversität stammen aus dem unversiegbaren Fundus an Sammelstücken, die
das Künstlerpaar ständig weiter, hier und auf Weltreisen zusammenträgt. Ramsch
und Wertvolles erhalten durch ihre Hände eingesetzt gleichwertige Bedeutung.
Jetzt gerade kommt in zwei gleichzeitig laufenden Ausstellungen in Zürich einiges
aus ihrer Sammlung grandios zu Zug, vor allem die Brotsammlung: Tod – unser
täglich Brot heisst die Installation im Friedhof Sihlfeld, Copain die
andere im Mühlerama. Beide Ausstellungen sind noch bis in den Sommer 2023 zu
sehen.
Auf die Frage,
woher die Ideen für ihre Kreationen kommen, antwortete Gerda vorige Woche in
einem Künstlergespräch im Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft: «Die
Ideen kommen aus der Luft.» Wichtigste Voraussetzung sei die Neugier. Daher
halten Gerda und Jörg ihre Wahrnehmungsantennen stets weit ausgefahren und geben
dem Zufall viel Raum. Ausserdem betreiben sie intensive Forschungsarbeit,
erweitern andauernd ihre Kenntnisse, naturwissenschaftliche Kenntnisse,
Kenntnisse von Brauchtümern in unserer Kultur und jener anderer Völker. In
Langenbruck, im Basler Jura, wo sie wohnen und ihre Atelierräume eingerichtet
haben, pflegen sie einen bezaubernd angelegten Blumen- und Gemüsegarten voller
Biodiversität, und sie essen die Eier ihrer eigenen glücklichen Hühner.
Heute Abend feiern
wir Moos und Flechten, so der Titel ihrer zweiten Arbeit für das
Kongresshaus. Diese verhält sich gänzlich komplementär zum Maskenball der Biodiversität, was feststellen lässt, wie vielfältig und breit
gefächert ihre künstlerische Sprache ist. In der Passage zum Gartensaal
wird unsere Blick auf den Boden gelenkt, auf die in die Bodenplatten
eingelassene Intarsienarbeit.
Flache Arbeiten
gab es bei Steiner & Lenzlinger immer wieder: Teppiche, Tapeten, Leinwände,
Zeichnungen, Siebdrucke oder Collagen. Doch assoziiert man mit ihrem Namen eher
raumgreifende Installationen voller sinnlich greifbarer Objekte.
In letzter Zeit
haben sie nun mehrfach mit dem Boden gearbeitet, im Elsass als künstlerische
Aktion Schätze vergraben, die erst in zehn Jahren wieder gehoben werden sollen;
auf den Alpen einen kleinen Acker mit zwölf verschiedenen Kartoffelsorten
angepflanzt und für die Brot-Ausstellung ein Weizenfeld im Friedhof Sihlfeld
angelegt.
Die
Intarsienarbeit ist hier etwas ganz Spezielles. Mit ihren Formen und Farben
erinnert sie an die Bildsprache der Moderne etwa an die Kunst von Sophie
Täuber-Arp. Damit vollzieht das Künstlerpaar eine stilistische Angleichung an
den Ort ihrer Intervention, an die Architektur der 30er Jahre. In den Intarsien
sehen wir abstrakte Naturformen und Kleckse, wobei wir alles Mögliche in diese
Formen und Farben hineinlesen können. Die Arbeit reizt die Vorstellungskraft. Man
phantasiert, es breite sich unter den Bodenplatten ein Geflecht aus, das sich
mit seinen knallfarbigen Formen aus den Fugen zwängen will. Fugen, Brüche,
Risse in Bodenplatten sind Stellen, wo sich – meist im Freien natürlich –
feuchte Erde ansammelt, eine günstige Bedingung für das Wachstum von Moos,
Flechten und Unkraut. Normalerweise kratzen wir diese ächzend und gekrümmt mit
geeigneten Geräten aus oder kärchern sie brutal mit Hochdruck weg. Denn die
Natur zu zähmen gilt gemeinhin immer noch als eine zivilisatorische
Errungenschaft.
Steiner &
Lenzlinger hingegen lassen hier Moos und Flechten sich bildlich
expandieren. Besonders ausgeprägt sind vier unterschiedliche Zonen der
Intervention: zwei Zonen üppigeren Wachstums erscheinen im unteren Teil des
leicht abfallenden Raums, da wo sich theoretisch am meisten Feuchtigkeit und
Erde ansammeln würden.
Beim ersten,
flüchtigen Blick in die Passage mag man zunächst erstaunt vermuten, es sei hier
der Boden nicht gewischt worden. Dabei wurden die Intarsien akribisch in zwei
höchst intensiven Arbeitswochen hergestellt. Den Vorlagen der Künstler folgend,
bohrte ein spezialisierter, portugiesischer Handwerker die Formen in die
bereits verlegten Bodenplatten hinein. Danach füllten Gerda und Jörg die
Fehlstellen mit einer Mischung vornehmlich aus Marmorsand und Acrylfarben
wieder auf. Für jede Farbe und Form musste frisch gebohrt und neu ausgefüllt
werden. Zuletzt wurde das Ganze glatt geschliffen und versiegelt.
Die Arbeit Moos
und Flechten steht in perfekter inhaltlicher Koexistenz mit dem wunderbaren
originalen Boden von Haefeli/Moser/Steiger im Kongressvestibül. In dieses
mündet ja auch die Passage. Der Vestibülboden
besteht aus anthrazit- und beigefarbenen, quadratischen Terrazzoplatten, die
ein gross angelegtes Schachbrettmuster bilden. Dazwischen verlaufen breite
Bahnen, die dieses strenge System grandios unterwandern. Mit nur gerade zwei
verschiedenen ornamentalen Motiven in den Platten und indem diese rapportlos
und scheinbar willkürlich aneinandergefügt sind, wird das effektvolle Chaos
hervorgerufen. Die wilden Ornamente bilden eine befreiende, kakophone und arrhythmische
Einlage in der streng getakteten harmonischen Ordnung.
Beide Böden, jener
des Vestibüls wie jener der Passage, sind mittels der künstlerischen Sprache
zum Terrain für die Invasion einer anspornenden Störung der normativen Ordnung
geworden.
Als das
Kongresshaus 1939 eingeweiht wurde, war es die Zeit der fortgeschrittenen
Moderne. Die war geprägt vom Stabilitäts- und Fortschrittsglauben, und dieser
Glaube wurde umso stärker propagiert, als man sich unmittelbar in der
Vorkriegszeit befand. Die Schweiz wollte sich moralisch aufrüsten.
Moralische Aufrüstung
ist auch heute angesagt – und wie.
Als ich vor gut
einer Woche in New York die Künstlerin Laurie Anderson traf und wir über die
ökologische und politische Weltlage sprachen, empfahl sie mir die Lektüre eines
preisgekrönten Bestseller aus dem Jahr 2015, The Mushrooom at the End
of the World von Anna Löwenhaupt–Tsing.
Die Autorin, eine Natur
und-Sozialwissenschaftlerin, geht den
Spuren des wertvollsten japanischen Speisepilzes nach, des Matsutake, und
verweist in ihrer Forschung, die zuweilen ins Phantastische übergleitet, wie
der Matsutake dem strapazierten Ökosystem zu trotzen weiss und aus den «Ruinen
des Kapitalismus» Transformationskräfte zu entwickeln vermag. Der Matsutake war
der erste Pilz, der aus den Trümmern von Hiroshima emporwuchs.
Am
Beispiel dieses Pilzes, meinte Laurie Anderson, könne man sich für das eigene
prekäre Überleben im heutigen Schlamassel ein metaphorisches Beispiel nehmen.
Von der Natur zu lernen, ist angesagt.
Vor
ein paar Tagen kam ich mit Gerda und Jörg hierher, um Moos und Flechten zu
betrachten, um mich auf den heutigen Abend vorzubereiten. Da fragte ich sie, ob
sie das Buch The Mushroom at the End oft he World kennen. Und natürlich
hatten sie es bereits gelesen.
Auch
ihre Kunst ist keineswegs ein Lamento. Too Early to Panic war 2018 der
Titel ihrer Ausstellung im Tinguely-Museum. Seither sind vier Jahre vergangen
und die Weltlage hat sich gewiss nicht verbessert. Aber Steiner & Lenzlingers
Kunst ist voll von Zeichen, die ins Herz einer neuen Wirklichkeit vordringen
wollen. Die Taktik, um dahin zu gelangen, hat Gerda Steiner an jenem erwähnten
Künstlergespräch im Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft aufgedeckt.
Sie tat es mittels eines Zitats von Jean Cocteau, und das lautet so:
«Sanft schliesst
man Toten die Augen. Sanft muss man auch den Lebenden die Augen öffnen».
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