Die neuen Zeitmaschinen
Von Philip Ursprung, 2002
Was wäre, wenn die Theoretiker Recht haben, die prophezeien,
dass wir uns bald in einer ewigen Gegenwart befinden, dass es kein
zeitliches Nacheinander, sondern nur ein räumliches Nebeneinander geben,
dass die Geschichte an ihr Ende gelangen und einem alles umfassenden
Gleichgewicht von Aufbau und Zusammenbruch weichen werde? Gerda Steiner
und Jörg Lenzlinger haben Bilder für diese ebenso brisanten wie
unbeantwortbaren Fragen geschaffen. Ihre Installationen drehen sich um
den Prozess der Kristallisation. Sie verändern sich im Lauf der
Ausstellungsdauer. Sie wachsen, sie treiben Blüten, sie verhärten sich
und überdecken ihre eigenen Träger mit Krusten aus farbigen Kristallen.
Sie umfangen die umgebende Architektur und die Besucher in einem
betörenden, verführerischen Gespinst. Künstliches und Natürliches,
Apparatur und Organismus sind untrennbar verwoben. Ihre Installationen
sind atemberaubend schön. Und zugleich verströmen sie einen Hauch von
ewiger Eiszeit. In den klassischen Science-Fiction-Romanen dienen
Zeitmaschinen dazu, sich frei in die Vergangenheit und Zukunft zu
bewegen. Diese linearen Fortbewegungsmittel sind zusammen mit dem
Fortschrittsglauben in den 1960er Jahren verschwunden. Sie haben der
Schilderung von entropischen Prozessen Platz gemacht. So werden die
Menschen in J. G. Ballards Roman The Crystal World (1966) irgendwo im
Urwald Zeuge, wie sich die Gegenstände zu kristallisieren beginnen. Sie
sind fasziniert von der rätselhaften Schönheit dieses Vorgangs, obwohl
sie ahnen, dass er bald den gesamten Planeten wird erstarren lassen.
Steiners und Lenzlingers Kunst überlässt es den Besuchern zu
entscheiden, ob es sich um eine optimistische oder pessimistische
Atmosphäre handelt. Aber dadurch, dass sie Innen und Aussen, Erinnerung
und Aktualität, Tagtraum und Beobachtung verwickelt, macht sie deutlich,
dass eine Position der Distanz unmöglich geworden ist und dass es kein
Aussen mehr gibt.
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The new time machines
By Philip Ursprung, 2002
What if some theorists are right when they prophesy that we
shall soon find ourselves in an eternal present when there will be no
temporal succession but that everything will coexist in space, that
history will come to an end and give way to an all-embracing equilibrium
of construction and destruction?
Gerda Steiner and Jörg Lenzlinger have created images for these
questions, which are both highly relevant and impossible to answer.
Their installations centre on the process of crystallisation. The works
mutate in the course of the exhibition. They grow, put out flowers and
solidify, covering their own material with crusts of coloured crystals.
They encompass the surrounding architecture and visitors in a dazzling,
seductive web. The artificial and the natural, apparatuses and the
organism are inseparably intertwined. The two artists’ installations are
breathtakingly beautiful while at the same time evoking an eternal ice
age. In classic science fiction novels, time machines make it possible
to move freely in the past and the future. Such linear means of
transport disappeared in the 1960s together with the belief in the
unlimited benefits of progress. They made way for descriptions of
entropic processes. Characters in J. G. Ballard’s novel The Crystal
World (1966) witness how objects somewhere in the jungle begin to
crystallise. They are fascinated by the mysterious beauty of the
process, while sensing that it will soon result in the entire planet‘s
petrification. The works of art created by Steiner and Lenzlinger leave
it to visitors to decide whether their atmosphere is optimistic or
pessimistic. Yet because the two artists merge what is inside and
outside, fuse together memories and the present moment, daydreaming and
observation, they make it apparent that a position of distance has
become impossible and that the outside no longer exists.
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