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"Die schlafende Schönheit"
von Adi Hoesle, 2009
"Zu dieser schlafenden Schönheit brauchen Sie einen Schlüssel",
stellte Frau W. beiläufig fest, ohne zu ahnen, dass sie damit unbewusst
bei mir ein unwiderstehliches Verlangen geweckt hatte, das Geheimnis
dieses Objekts wenn schon nicht zu entschlüsseln, so doch wenigstens auf
sich wirken und so Wirklichkeit werden zu lassen.
Auf der engen und kurvenreichen Verbindungsstraße zwischen Hasselbach
und Werkhausen liegt auf halber Strecke kaum wahrnehmbar auf der
rechten Seite unterhalb eine etwa 7 Meter lange Röhre mit einem
Durchmesser von rund 3 Metern. Die Schatten zweier nah gelegener Bäume
zeichnen kryptische Muster auf die durch Algen und Moosbefall grünlich
schimmernde Kunststoffhülle. Zusammen mit zwei oben liegenden
Einfüllstutzen legt ein zirkuläres Sicherheitsgeländer auf der oberen
Seite die Vermutung nahe, dass es sich um ein landwirtschaftliches Silo
handeln könnte, das ins Erdreich eingesunken ist. Lange Zeit standen
Silos aufrecht und waren dadurch weithin sichtbare Zeichen bäuerlicher
Kulturlandschaften. Je höher das Silo in den Himmel ragte, umso größer
war auch die Bedeutung des dazugehörigen landwirtschaftlichen Betriebes.
Eine Art Fleiß und Reichtum manifestierender Phallus. Zwischenzeitlich
sind diese Bilder jedoch größtenteils wieder verschwunden und so lässt
auch der äußere Gesamtzustand des hier beschriebenen Objekts vermuten,
dass es schon vor längerer Zeit entsorgt worden ist und somit auch
seiner Aufgabe enthoben wurde, frisches Gras unter Sauerstoffentzug zu
Futter für Nutztiere zu vergären. Hier handelt es sich um in die
Landschaft entledigten Abfall. Wert- und nutzlos, vom Besitzer
vergessen! Von der Vertikalen in die Horizontale gekippter ehemaliger
Reichtum! Schon ranken sich außen an der Hülle Sträucher nach oben. Peu à
peu werden sie nun den vermeintlichen "Schandfleck" überwachsen und
verhüllen. Damit hat das Silo einen Grad an Interesselosigkeit erreicht,
die eine auf den Punkt gebrachte, notwendige Voraussetzung darstellt,
um in den Zustand des Vergessens und der Metamorphose eintreten zu
können.
Und wäre da nicht hinter dem Silo eine, ein mäanderndes Bächlein
überquerende,
schmale, geometrisch geformte und rostige Metallbrücke, die den Besucher
genau auf das Silo zuführt, würde man wohl, ohne sich weitere Gedanken
über dieses Objekt zu machen, einfach vorbeifahren.
Der Verdacht, dass es hier irgendwann zu einem bewussten Eingriff
menschlichen
Gestaltungswillens gekommen ist, erhärtet sich, wenn man über die
schmale Brücke geht und
sich dem Silo nähert. Dann dechiffriert man die wilden Sträucher an der
Plastikhülle als
dornige Brombeersträucher, die zu beiden Seiten in regelmäßigen
Abständen
gepflanzt worden sind. Vielleicht, um den weniger schönen Anblick des
Silos auf
natürliche Weise zu verdecken oder auch, um das Leben in dem Fass
hüllend zu umfangen, so wie Dornröschen im Märchen der Gebrüder Grimm in
ihrem Schloss unter einem schützenden Dornengestrüpp in einen
tausendjährigen Schlaf fällt.
An der unteren, offenen Seite des Silos wurde eine vertikale,
Holzverkleidung angebracht. Mittig ist darin befindet sich eine ovale
Tür, die durch einen Riegel und ein handelsübliches kleines Schloss
abgesperrt ist und somit den Eintritt in die "Höhle" verwehrt. Die
Spalten zwischen den einzelnen bräunlichen Fichtenbrettern lassen jedoch
einen Blick in das Innere zu. Wenn man das Schloss mit Hilfe des
übergebenen Schlüssels entriegelt und die Tür
geöffnet hat, um ein oder zwei vorsichtige Schritte über eine Stufe in
das Halbdunkel hinein zu wagen, übt das Innere dieser "Höhle" eine
geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft aus.
Noch bevor die Augen sich an das Licht gewöhnt haben, nimmt man einen
weißen, einem Phallus wiederum nicht unähnlichen Vorhang wahr, der an
der Silodecke einen der beiden Einfüllstutzen ringförmig umfasst und so
den von oben einfallenden Lichtkegel geradezu materialisierend in das
Innere der "Höhle" führt. Auf diese Weise scheint einerseits das Licht
in seinem eigenen "Körper" gefangen zu sein, andererseits verleiht es
jedoch diesem Innenraum ein magisches Ganzes, ohne dass in der "Höhle"
selbst etwas davon deutlich zu erkennen wäre. Der Vorhang reicht fast
bis zum hölzernen Boden und umschließt eine weiß emaillierte, auf zwei
Kanthölzern stehende abgenützte Eisenbadewanne, wie man sie aus den
1960er Jahren kennt.
Außen ist die Natur: der kleine Bach, die im Herbst bunten Blätter der
Bäume des nahen
Wäldchens und im Hintergrund die sanften Hügel des Westerwaldes. Außen
ist der Alltag:
Autos fahren vorbei, hört man den Lärm der Flugzeuge, wird man an dieses
oder jenes
erinnert, das Handy klingelt, man fühlt sich gestresst und wartet
sehnsüchtig auf den Moment
des Innehaltens. Außen ist das Schattenspiel der Bäume auf der Silowand
zu sehen. Außen
sind wir!
Innen und innerhalb des Vorhangs sieht man in der mit schwarzen Streifen
und Teerklumpen
verschmierten, teilweise davon bedeckten und damit ihrer ursprünglichen
Aufgabe enthobenen Badewanne ein amorphes pflanzenähnliches
pechschwarzes "Etwas". An manchen Stellen reflektiert das tiefe Schwarz
durch die einfallende Sonne das Licht. Wie Äste windet und streckt es
sich nach oben. Mehr und mehr formt eine tropfende und triefende
Teermasse ein fast undurchdringliches krusten- und netzartiges Geflecht.
Zufällig entstandene Querstreben stabilisieren das fragile Objekt. Auf
dem Weg nach unten bildet die zähe Teermasse an einigen "Ästen"
tropfenförmige Kokons aus. Wie auf Händen trägt die Baumkrone grelle
pinkfarbene Blüten und erotisierende Knospen, die sich in unförmigen,
ebenfalls mit Teer überzogenen, Blütenkelchen ähnlichen Schüsselchen,
befinden. Und über allem ragt auf der korallenartigen Spitze eine
goldfarbene Blüte: es ist die Krone des Lebens.
Nähert man sich der Installation und nimmt den Vorhang etwas zur Seite,
um
einen ungehinderten Blick auf das Innere zu werfen, entfaltet der oben
beschriebene
Blütenzauber seine ganze haptische und visuelle Potenz. Er ist wie ein
atmender, lebendiger Organismus, der sich scheinbar jeden Augenblick
verändern und bewegen kann. Und in der Tat, hier ist der Wunsch nicht
der Vater des Gedankens, denn hier ist ein geheimnisvoller Prozess des
Gärens, Wachsens und der Kristallisierung in Gang gesetzt worden.
Harnstoff ist ein Kohlensäurediamid, also eine organische Verbindung. Reiner Harnstoff ist
ein weißer, kristalliner, ungiftiger und hygienisch unbedenklicher Feststoff. Er gilt als die
erste, aus anorganischen Ausgangsstoffen synthetisch hergestellte organische Verbindung.
Das widerspricht der einst verbreiteten Vorstellung, dass organische Substanzen grundsätzlich
nur von Lebewesen durch die so genannte "vis vitalis", die Lebenskraft, hergestellt werden
können. Harnstoff hat somit die Grenzen zwischen Natur und Künstlichkeit aufgehoben.
Harnstoff wird von vielen Tieren als ein Endprodukt des Stoffwechsels von
Stickstoffverbindungen im sogenannten Harnstoffzyklus produziert. Er wird im Urin
ausgeschieden, um dann auf die Felder ausgebracht zu werden. Harnstoff fördert als Dünger
das Wachstum des Grases, das später als Nahrung im Silo gärt und schlussendlich wieder an
die Tiere verfüttert wird!
Und schließt sich hier nicht symbolisch wieder ein Zyklus? Ist nicht auch diesem Werk die
Verbindung zwischen Natur und Kunst immanent, hier an diesem Ort, der selbstreferentiell
das Thema Natur und Kunst zu bespielen versteht?
Hier an diesem Ort in diesem Silo bilden sich langsam - dem menschlichen
Auge im
Augenblick des Betrachtens nicht zugänglich - mit Hilfe von Wärme und
Licht aus der orange schimmernden Flüssigkeit in den Schüsselchen
kleinste Harnstoffkristalle. Diese breiten sich mehr und mehr in alle
Richtungen aus; verdichten sich; fangen an, in teils nadelförmigen,
teils geordneten geometrischen Formen zu wuchern; werden grösser und
grösser; treten über die Ränder der Blütenkelche hinaus; verbinden sich
mit danebenliegenden Kristallen oder weichen nach links oder rechts aus;
schrauben sich in die Höhe; erfinden hier und dort neue Formen und
beginnen in ihren wunderbaren Farben zwischen Blutrot und aufreizendem
Pink je nach Lichteinfall zu flimmern, zu leuchten und reflektieren
abhängig von der Tageszeit die einfallenden Lichtstrahlen. Es ist ein
langsames, stetiges und achtsames Wachsen, ein Sich-Verändern, ein
Reifen und ein wundersames Herausschälen der Schönheit dieser Kristalle.
Dieses Gebilde ist sehr fragil und es muss gehegt und gepflegt werden,
denn fehlen
den Harnstoffkristallen Sonne, Wärme und Licht als Quelle der Nahrung,
stellen sie ihr
Wachstum ein. In Wasser aufgelöst, warten sie danach bis sie wieder zu
neuem Leben
erweckt werden.
Dieser Zerbrechlichkeit und dem eventuellen Nachlassen des Wachstums
verwehrt sich das Werk jedoch nicht. Es entspricht dem Entziehen, dem
sich in den Kokon Zurückziehen im Sinne eines äußerlichen "Stand-bys".
Im Dornröschenschlaf vollführt die "Schlafende Schönheit" eine
Metamorphose einer uns
nicht zugänglichen Form von Realität. Die Schlafende erwacht aus ihrem
"Stand-by" und entfaltet sich wie ein wunderbarer Schmetterling, der aus
seinem Kokon schlüpft, in ein erotisches Erlebnis der reinen Idee von
Schönheit!
Die Antike hielt für diesen Gedankengang das Höhlengleichnis von Platon
bereit.
Bei dem hier beschriebenen Werk von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger
handelt es sich um
eine Art Umstülpung desselben: während bei Platon der Mensch aus der
Höhle aufsteigen
muss, um die reine Idee im Sonnenlicht zu sehen, geht hier der
Betrachter zur "Schlafenden
Schönheit" in die Höhle hinein.
Die Synthese ist darin zu sehen, dass sowohl bei Platon, wie auch bei Gerda Steiner & Jörg
Lenzlinger der Sehende den Nicht-Sehenden aus seinem Schattendasein befreien und in die
Idee des Schönen als den Schlüssel zur Erkenntnis kontemplativ einbeziehen möchte, wohl
wissend, dass nur Wenige folgen möchten.
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